„Vergeben befreit“ ist eines meiner Herzensthemen. Denn der Friede in uns selbst und mit anderen macht unser Leben reich! In dem Beitrag erfährst Du, wie hoch der Preis ist, wenn Du an Vorwürfen und Groll festhältst. Wie Du deine belastende Vergangenheit loslässt und deine Freiheit wiederfindest. Welche Schritte auf dem Weg des Vergebens wichtig sind und Du wieder mutig und liebend vorwärts leben kannst.
Die Berge glänzen im Sonnenlicht, der Harsch knirscht unter meinen Schneeschuhen und in der Ferne krächzt ein Eichelhäher. Ich bleibe betroffen stehen. Denn von all dem habe ich in den vergangenen Stunden kaum etwas mitbekommen. Als ob ein Autopilot meine Schritte gelenkt hätte, während ich selbst ganz woanders gewesen bin, nämlich bei einem verletzenden Eklat: Wieder und wieder hatte ich während der Wanderung die kränkende Situation gedanklich durchgespielt und wütende innere Streitgespräche geführt. In meinem Gedankenkarussel gefangen war ich blind gewesen für die Schönheit der Landschaft. Als mir all dies bewusst wird, ärgere ich mich auch noch über meinen Ärger – was zur guten Stimmung nicht wirklich beiträgt…
Solche oder ähnlichen Erfahrungen bleiben wohl niemanden erspart. Denn niemand kommt unbeschadet durchs Leben! Jeden Tag kann es geschehen, dass wir verletzen und dass wir verletzt werden. Ungerechte Kritik, Bloßstellung durch eine Kollegin oder enttäuschtes Vertrauen – das schmerzt. Während die meisten mit leichten Blessuren gut fertig werden, lässt sich eine schwere Kränkung nicht einfach wegstecken. Wohin denn auch?
Wer nachträgt, trägt schwer
Manche meinen, es sei ein Ausdruck von Selbstachtung, wenn sie ihren Zorn auf die andere Person pflegen. Davon überzeugt, dass sie sich „eine solche Unverschämtheit“ nicht gefallen lassen dürfen, nähren sie ihre Wut. Doch solange wir jemandem eine Verletzung nachtragen, sind vor allem wir es, die schwer daran tragen. Wir leben mit der Last der vergifteten Gefühle und Erinnerungen. Die Vergangenheit hat uns fest im Griff, und die mögliche Freude des Augenblicks geht durch den getrübten Blick ungesehen vorüber.
Ein Weg, um seelische Verletzungen zu überwinden und an ihnen zu wachsen, ist der Prozess der inneren Aussöhnung. Wer verzeiht, lässt – Schritt für Schritt – das Erlittene los und befreit sich so von dem, was ihm angetan wurde. Er oder sie findet zu einem tieferen Einverständnis mit sich und kann von Neuem mutig und liebend vorwärts leben.
Unser Lebensglück hängt entscheidend davon ab, ob wir vergeben können!
Doch wie geht Vergeben konkret? Welche Schritte braucht es auf dem Weg der inneren Aussöhnung?
Zeige deine Wunde
Werden wir durch jemanden verletzt, dann wird unser Inneres mit einem Schlag durcheinandergewirbelt. Schmerz, Wut und Angst steigen auf. Diese Empfindungen können äußerst peinigen, und entsprechend nahe liegt es, sie abzuwehren. Aber wer eine Verletzung überspielt, ist sie noch lange nicht los. Im Gegenteil: Unbearbeiteter Schmerz kann uns bitter werden lassen. Darüber hinaus schränkt er unsere persönliche Handlungsfreiheit ein, denn Empfindungen, die nicht in der Helle des Bewusstseins gelebt werden, führen häufig ein höchst einflussreiches Schattenregiment.
„Zeige deine Wunde“ – so lautete der Titel einer Rauminstallation von Joseph Beuys im Lenbachhaus in München. Seine Installation gibt einen Wink, wie günstige Bedingungen zur Wundheilung aussehen: Eine äußere Wunde muss bluten können und es muss Luft an sie herankommen. Auch seelische Verletzungen heilen nur, wenn wir sie nicht allzu schnell zupflastern. Wenn der Schmerz und Kränkungsgefühle wie Wut, Scham oder Angst ans Licht kommen dürfen. Nur wenn diese Empfindungen zugelassen und durchlebt werden, können sie sich verwandeln.
Konkret kann dies bedeuten: Ich erinnere mich an die verletzende Situation; an das, was damals geschehen ist und wie ich die ganze Sache erlebt habe. Möglicherweise spüre ich, wie groß meine Wut über das zugefügte Unrecht heute noch ist. Wie sehr mir die Angst im Nacken sitzt. Wie gerne ich es der anderen „doppelt und dreifach“ heimzahlen würde…
Den Blick weiten
Im Verlauf des Vergebungsprozesses ist zugleich wichtig, durch Nachdenken und Gespräch einen Abstand von diesen starken, vitalen Gefühlen zu gewinnen. Sich um eine realistischere Sicht der verletzenden Situation zu bemühen. Denn im Klammergriff der Kränkung neigen Menschen oft zur Schwarz-Weiß-Malerei, etwa: „Ich habe an allem schuld!“ Oder: „Ich bin das Opfer einer böswilligen Attacke. Der andere trägt die alleinige Verantwortung.“ Eine solch einseitige Sichtweise, die nur Hell oder Dunkel, Gut oder Böse kennt, verhindert echte innere Aussöhnung! Der Weg der inneren Aussöhnung möchte aus einem solchen Schwarz-Weiß-Denken herausführen. Wer eine realistischere Sicht vom anderen und von sich selbst und den eigenen Anteilen am Konflikt gewinnt, kann die erlittene Verletzung gedanklich leichter verarbeiten.
Vergeben als eine innere Unabhängigkeitserklärung
Doch alles Durcharbeiten der Gefühle und Deutungsmuster führt nicht automatisch zum Vergeben. Vielmehr stehen wir irgendwann vor der Entscheidung: Will ich der anderen Person verzeihen, oder will ich ihr das verletzende Verhalten weiterhin anlasten? Will ich am Schuldschein festhalten, oder will ich innerlich einen Friedensvertrag mit ihr und meiner eigenen Geschichte schließen? Diese Entscheidung birgt weit reichende Konsequenzen. Denn solange wir uns innerlich nicht aussöhnen, bleiben wir an den Menschen gebunden, der uns verletzt hat.
Vergeben bedeutet: Ich höre auf, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen.
Ich eröffne eine Zukunft, die nicht unter dem Diktat des Gewesenen steht, und nehme der anderen Person die Macht, die sie immer noch ausübt, indem sie mich etwa mit Hass- oder Ohnmachtsgefühlen erfüllt. Vergeben gleicht einer inneren Unabhängigkeitserklärung: Wir finden aus der lähmenden Opferrolle heraus, die uns unfrei macht, und können von Neuem vorwärts leben.
Vergebung geschehen lassen
All dies zeigt: Der Prozess des Vergebens nimmt ganzheitlich in Anspruch. Doch auf dem Weg der inneren Aussöhnung ist nicht nur unser Tun gefordert, sondern auch die Bereitschaft, geschehen zu lassen. Denn wirklich von Herzen verzeihen zu können entzieht sich trotz allem Engagement immer auch der eigenen Verfügungsmacht. Ich kenne niemanden, der sagt: „Ich verdanke es allein meiner Selbstoptimierung, dass ich vergeben konnte.“ Insbesondere wer fähig ist, Schreckliches zu verzeihen, erlebt dies im Tiefsten auch als ein Geschenk: als etwas, das (in) ihm geschieht. Als eine Gnade.
Darin liegt eine zentrale spirituelle Erfahrung: Ich lebe aus mehr als aus der Kraft des eigenen Ich. Ich schöpfe aus einer Quelle, die den Tiefen meiner Seele entspringt und die mir zugleich geschenkt wird.
Ich bin aufgehoben in einem größeren und tieferen Zusammenhang – ein Zusammenhang, der eine Verbundenheit schafft mit allem und allen. Ein Zusammenhang, der Liebe heißt.
In der Begleitung von Menschen, aber auch im eigenen Leben erfahre ich immer wieder, wie wegweisend und heilend Gebet und Meditation im Prozess des Vergebens wirken können. Wenn Menschen auf diese Weise Schritt für Schritt mit einer erlittenen Kränkung Frieden schließen und zur Versöhnung fähig werden, dann kommen sie mit der Mitte des christlichen Glaubens in Berührung: Sie erfahren, dass das Christentum eine durch und durch therapeutische Religion ist. Aber leider wird seit der Aufklärung Religion oft mit Moral verwechselt.
Umso dankbarer bin ich für die Spiritualität meiner Ordensgemeinschaft – den Salvatorianerinnen -, in der Jesus Christus als ‚salvator’, als Arzt und Heiland im Mittelpunkt steht. Von Jesus werden viele Heilungsgeschichten erzählt. Ja, er nähert sich sogar den Aussätzigen, die aus der Gesellschaft brutal ausgestoßen werden. Und das Eigenartige passiert: Jesus macht sich durch die Berührung nicht unrein, sondern die Unreinen werden durch seine Berührung rein. Jesus hat eine ansteckende Gesundheit! Denn nichts kann einen Menschen so sehr verändern wie die Erfahrung echter Liebe!
In lyrischer Schönheit drückt Hilde Domin aus, dass Liebe und Zuneigung Beziehungswunden heilen lassen. In einem ihrer Gedichte heißt es: „Keine Katze mit sieben Leben, keine Eidechse und kein Seestern, denen das verlorene Glied nachwächst, ist so zäh wie der Mensch, den man in die Sonne von Liebe und Hoffnung legt… Selbst die Rinde des Vertrauens wächst langsam nach.“
Ich bin dankbar, dass mir bei meiner Wanderung, bei der ich mich in dunklen Gedanken verstrickt hatte, dieses Gedicht in den Sinn kommt. Es weitet meinen Blick und mein Herz.
Bücher zum Thema:
Melanie Wolfers, Die Kraft des Vergebens. Wie wir Kränkungen überwinden und von Neuem vorwärts leben, Freiburg, Taschenbuchausgabe 2017.
Melanie Wolfers, Freunde fürs Leben. Von der Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein, adeo Verlag, 6. Auflage 2021, 137-155
Podcast-Tipp:
Fotos: © MarioGuti/iStock, © Eliza/photocase.com