Warum wir uns nicht von schlechten Gefühlen abhängig machen müssen
Lockdown; berufliche Sorgen; Angst vor dem Coronavirus und um einen erkrankten Menschen; vor Einsamkeit oder vor zu viel Nähe… An den Pandemiefolgen haben viele schwer zu tragen. Dummerweise machen wir uns das Schwere durch ein Gedankenkino oft noch schwerer. Im schlimmsten Fall werden schmerzhafte Erfahrungen zu einem Dauer-Leiden. Doch das muss nicht sein. Erfahre mehr darüber und lies, wie du diese Selbstsabotage beenden kannst.
Ständig gehen unsere Gedanken wie von selbst auf Wanderschaft. Wir grübeln über alles Mögliche und malen uns in bunten Farben aus, was wir befürchten oder gerne hätten. „Gedankenkino“ nennen viele ein solches Grübeln: Da läuft ein innerer Film ab, der allerdings nicht in einem Happy End mündet, sondern immer wieder von vorne beginnt. Das Dumme an diesem Kopfkino: Mit ihm lassen sich treffsicher schmerzhafte Erfahrungen verstärken und in ein hartnäckiges Dauer-Leiden verwandeln.
Was dahinter steckt? Unsere Fähigkeit, das wir uns selbst das Leben schwerer machen, als es ohnehin schon manchmal ist. Wie das passiert, beschreibe ich in vier Aspekten:
Erstens: Wir leiden, weil wir das nicht haben, was wir wollen
Dieses Leiden erfreut sich weiter Verbreitung. Manche verbringen freudlos einen Großteil ihre Zeit damit, sich nach Dingen oder Eigenschaften zu sehnen, die sie nicht ihr Eigen nennen, etwa: Sonnenschein statt eines graunassen Wochenendes; ein Treffen mit Freunden, das den Kontaktbeschränkungen zum Opfer fällt; den erhofften Job, den jemand anderes bekommen hat… Und selbst, wenn gerade alles passt: Schöner wär’s, wenn’s schöner wäre. Oder etwa nicht?!
Zweitens: Wir leiden, weil wir etwas haben, was wir nicht wollen
Es gibt vieles im Leben, das wir lieber gar nicht oder zumindest gerne anders hätten. „Ach, wenn die Kollegin kündigen würde … Oder wenigstens in einem anderen Büro säße, oder nur heute einmal ihren Mund halten könnte!“ Oder wir erkennen beim morgendlichen Blick in den Spiegel: „Oh je, das nächste graue Haar!“ – und schon beginnt die Abwärtsspirale. Auch das eigene Innere mutet Unwillkommenes zu: Charaktereigenschaften, körperliche und geistige Grenzen, seelische Narben … Wie oft wünschen Menschen sich, eine andere oder ein anderer zu sein.
Bei beiden Aspekten vergleichst du die Realität mit deinen eigenen Vorstellungen und Idealbildern. Ein normaler und auch lebenswichtiger Vorgang.
Das Problem beginnt, wenn du dich der Realität verweigerst und dich „auf Teufel komm raus“ an deine Vorstellungen klammerst, wie das Wetter, der Partner, der Job sein sollten. Wie das Leben oder wie du „eigentlich“ sein solltest. Denn dann kann das Leben nur verlieren. Dann kannst du nur verlieren.
Aus eigener Erfahrung weiß ich: Meine Erwartungen und Vorstellungen können wie dunkel getönte Brillen wirken, die den Blick auf die Realität eintrüben und mit einem Negativschleier überziehen. Auf diese Weise werde ich mit meinem Kopfkino zur Urheberin der eigenen Unzufriedenheit. Ein innerer Film läuft ab, der zwangsläufig auf ein ‚unhappy end‘ zuläuft. Mit einer solchen Dramaturgie gelingt es ziemlich treffsicher, sich und anderen das Leben zu vermiesen.
Doch damit nicht genug! Es gibt noch die Fortgeschrittenen-Version, wie wir durch unsere Gedanken uns selbst leidend machen. Nämlich wenn unser Hirn in Glücksmomenten manchmal wie von selbst Unglücksfantasien produziert und dadurch unsere Freude schmälert.
Lesetipp:
Krieg, Krankheit, Umweltzerstörung und Ungerechtigkeit – viele fühlen sich ohnmächtig angesichts dieser Ereignisse.
Das Buch „Nimm der Ohnmacht ihre Macht“ beschreibt sieben Grundhaltungen, die uns helfen, der Ohnmacht ihre Macht zu nehmen und die Kraft zu entdecken, die in uns wohnt. Für ein zufriedenes und stabileres Leben.
Drittens: Wir leiden, weil wir genau das haben, was wir wollen
Ja, richtig gelesen! Ich spreche von Momenten, in denen wir uns eigentlich glücklich fühlen könnten und es vielleicht auch sind. Doch gerade in solchen Augenblicken gesellt sich gerne die Furcht dazu, dass sich dieser Moment nicht festhalten lässt. Dass er vorübergehen wird oder zerbrechlich ist. Wir leiden also an dem Schönen, das uns gegeben ist. Wir leiden daran, dass uns das Schöne möglicherweise einmal genommen sein wird. Ähnlich gelagert ist der nächste Aspekt.
Viertens: Wir leiden, weil wir nicht haben, was wir auch unter keinen Umständen haben wollen
Angenommen, eine Person läuft regelmäßig Marathon und freut sich daran, dass sie ohne Beschwerden große Strecken joggen kann. Nur gelegentlich ziept es im linken Knie. Der Gedanke, dass ihre Knie in einigen Jahren nicht mehr mitspielen werden, macht ihr zunehmend Sorgen. Er vermiest ihr die Freude am Training, das sie in diesem Augenblick schmerzfrei absolviert.
Bei den beiden letztgenannten Punkten spielen die Angst vor der Zukunft und die eigene Verwundbarkeit die Hauptrolle. Die Angst, dass ich die Zukunft nicht im Griff habe und Unerwünschtes, ja Schlimmes passieren könnte. Tiefer liegend: Die Angst, dass ich selbst, dass die Menschen, die ich liebe und die Dinge, die ich aufgebaut habe, fragil und vergänglich sind. Solche Zukunftsgedanken können unser Jetzt in Beschlag nehmen. Sie rauben das Glück der Gegenwart, indem sie voll Sorge in die Zukunft blicken lassen. Wir rauben uns mit unseren gedanklichen Zukunftsszenarien den gegenwärtigen Augenblick.
Was verschafft Abhilfe bei einem solch ungesunden Gedankenkino? Und was nicht?
Glaub nicht alles, was du denkst
Dein Gedankenkino gewaltsam abstellen zu wollen, hilft nicht. Denn dann melden sich deine Vorstellungen, Erwartungen und Befürchtungen umso lauter zu Wort. Wohl aber lässt sich darauf achten, dass man sich nicht von seinen Gedanken und den damit verbundenen Gefühlen mitreißen lässt oder diese noch weiter ausmalt. Das Beste wäre, den Impulsen ähnlich wie Spam-Mails oder Pop-up-Anzeigen keine weitere Bedeutung beizumessen. Denn dann verlieren sie mit der Zeit ihre Macht. Und gleichzeitig kannst du versuchen, aufbauenden Vorstellungen mehr Raum zu geben: Gedanken, die Freude und Vertrauen, Kreativität und Wohlwollen stärken. Innere Bilder, welche die Freundschaft mit dir und dem Leben vertiefen und die Verbundenheit mit anderen fördern.
Auf die eigene Gedankenkultur zu achten funktioniert ähnlich wie die Pflege von Blumen: Je nachdem, ob man einer Pflanze ausreichend Wasser und Licht zukommen lässt oder nicht, wird diese wachsen und aufblühen – oder sie wird verdorren und eingehen. Analog die Pflege unserer Innenwelt: Jene Gedanken und Gefühle werden wachsen und sich fortpflanzen, denen wir Energie zuführen, indem wir ihnen Aufmerksamkeit und Raum geben. Und umgekehrt werden jene Gedanken, um die wir uns nicht kümmern, mit der Zeit verkümmern.
Was erwartest du dir?
Natürlich bleibt das Unangenehme unangenehm und das Fürchterliche fürchterlich! Doch der springende Punkt liegt woanders: Wer nicht akzeptieren kann, dass er unzufrieden ist, der wird unzufrieden in Potenz. Wer sich auf Dauer an unausweichlichen Tatsachen reibt, wird wund. Wer hingegen seine Erwartungen verändert und akzeptiert, dass auch Enttäuschung und Schmerz zum Leben dazugehören, den werden diese Erfahrungen nicht mehr ganz so stark quälen. Trotz Not kehrt irgendwie ein innerer Frieden ein.
Wem will ich mehr Glauben schenken: meiner Angst, die mir das Heute stiehlt, indem sie mich das Morgen fürchten lehrt? Oder meinem dankbaren Vertrauen, dass sich mir hier und jetzt das Leben in seiner Schönheit zeigt?
Wem willst du Glauben schenken?
Wer entdeckt, dass Unglücksfantasien oder Verlustängste das Glück des Augenblicks schmälern, kann sich beglückwünschen! Denn in dem Maß, in dem uns das Gedankenkino bewusst wird, können wir diesem gegenüber eine distanzierte Haltung einnehmen. Wir schauen gewissermaßen von außen auf den Kinosaal und können uns fragen: „Wem will ich mehr Glauben schenken: meiner Angst, die mir das Heute stiehlt, indem sie mich das Morgen fürchten lehrt? Oder meinem dankbaren Vertrauen, dass sich mir hier und jetzt das Leben in seiner Schönheit zeigt?“
Wie lässt sich eine lebensbejahende Gedankenkultur stärken? – Das sieht bei jeder und jedem anders aus. Wichtig wäre nur, nach den eigenen Quellen zu suchen. Und dann auch regelmäßig aus ihnen zu schöpfen. Ich persönlich nehme gerne eine geeignete Lektüre zur Hand oder lerne Gedichte auswendig. Ich spreche mit vertrauten Menschen. Und ich verabrede mich mit mir selbst, um mir klarer zu werden, in welche Richtung ich gerade unterwegs bin.
Vor allem helfen mir Zeiten der Stille und der Meditation, in denen ich einfach da bin. Hier entwirrt sich mein Inneres manchmal wie von selbst. Ich spüre die Relativität von allem – auch von meinen Gedanken und Gefühlen, die kommen und gehen. Wenn ich lange einfach nur auf die Stille höre, ahne ich eine tiefere Wirklichkeit. Die große Stille umhüllt mich und erfüllt mich. Keine Totenstille, sondern eine Stille des Friedens.
Ein bearbeiteter Auszug aus meinem SPIEGEL-Bestseller: Freunde fürs Leben. Von der Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein, adeo Verlag 2020, 6. Auflage
Freunde fürs Leben. Von der Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein
Erst wenn wir Freundschaft mit uns selbst schließen und pflegen, werden wir heimisch in unserem Leben. Dann können wir unsere Stärken ins Spiel bringen und uns Fehler und Schwächen eingestehen, ohne uns dabei schlecht zu fühlen. Und erst dann können wir auch mit den dunklen Kapiteln unserer Vergangenheit Frieden schließen. Die Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein, ist eine innere Einstellung, die positive Energien freisetzt.
adeo Verlag
224 Seiten
ISBN 9783863341138