Achtsamkeit Innenhalten

Innehalten: Ein Baustein unseres geistigen Immunsystems

Damit unser Leben gelingen kann, brauchen wir Zeiten für uns selbst. Doch oft fällt es schwer, mit sich allein zu sein. Hier erfahren Sie, woran das liegt; wie viele Wege zu sich selbst führen und welcher Gewinn Ihnen und ihrem Umfeld winkt, wenn Sie immer mal wieder innehalten.

Was ist die größte Taste auf Ihrer PC-Tastatur? Meist lautet die spontane Antwort: „Enter.“ Doch es ist die Leertaste! Welche Bedeutung dieser Taste zukommt, kann ein einfaches Gedankenexperiment verdeutlichen: Stellen Sie sich im Geist einen Text ohne Leerzeichen vor. Sie werden ihn vermutlich irgendwie entziffern können, aber nur mit Mühe. Es braucht Zwischenräume und Unterbrechungen, um Texte gut lesen zu können – und das gilt nicht nur für Artikel und Bücher, sondern auch für den eigenen Lebenstext.

Um die eigene Lebensgeschichte lesen und stimmig weiterschreiben zu können, gilt es zu pausieren. Wer innehält, verschafft sich den Freiraum, um wahrzunehmen, was in ihm vorgeht. Um Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Um das eigene Leben zu führen. Und darin liegt das Fundament unseres seelisch-geistigen Immunsystem: in einem bewussten Verhältnis zu sich selbst und dem Leben.

Doch ein solches Innehalten ist alles andere als selbstverständlich. Vielmehr handelt es sich um eine echte Errungenschaft, um die man sich ebenso stetig bemühen muss wie um eine aufgeräumte Küche oder einen durchtrainierten Körper.

Wenn Ruhe aus der Ruhe bringt

Wie schwer es Menschen fällt, mit sich allein zu sein, zeigt ein verblüffendes Experiment: Der US-Sozialpsychologe Timothy Wilson von der Universität Virginia bat die Versuchspersonen einer Studie, allein in einem schmucklosen Raum Platz zu nehmen und das Handy im Vorraum liegen zu lassen. Sie sollten einfach nur eine Viertelstunde in Ruhe ihren Gedanken nachhängen. Und erhielten auch noch Geld dafür. Eigentlich eine erholsame Auszeit, sollte man meinen. Doch das Gegenteil war der Fall: Die Mehrzahl empfand das Alleinsein mit sich selbst als belastend. Also gab Wilson ihnen die Möglichkeit, etwas zu tun: Er stellte ihnen einen Knopf zur Verfügung. Drückten sie diesen, verpassten sie sich selbst einen milden, aber unangenehmen Elektroschock. Und er musste überrascht beobachten: Zwölf von 18 Männern und sechs von 24 Frauen zogen es vor, sich freiwillig einen Stromschlag zu versetzen, anstatt für eine Viertelstunde mit ihren Gedanken allein zu sein. Sie widmeten sich also lieber einer unangenehmen Aktivität als gar keiner.

Warum fällt es Menschen so schwer, Stille und Alleinsein auszuhalten? Warum muss immer etwas gesagt oder getan werden, sobald es um einen ruhig wird? Zum einen tragen gesellschaftliche Hintergründe dazu bei – etwa das Credo unserer beschleunigten Moderne: Zeit ist Geld. Entsprechend führen viele lieber ein Leben im pausenlosen Bereitschaftsmodus, als den Eindruck zu vermitteln, sie würden ihre Zeit verplempern. Zum anderen halten innerseelische Widerstände einen davon ab, sich mit sich selbst zu verabreden.

Denn wenn das geschäftige Grundrauschen verebbt, taucht auf, wovor wir ansonsten mit kleinen Tricks fliehen: Ohnmacht oder Ausweglosigkeit, Einsamkeit oder Eifersucht, dunkle Erinnerungen und Enttäuschungen – und dem weichen Viele lieber aus.

Doch das hat fatale Folgen: Denn wer nicht auf sich selbst hört, hört bald nur noch auf andere oder anderes. Und lebt, wie man eben so lebt.

Von den vielen Wegen zu sich selbst

Auf welche Weisen Menschen einen Zugang zu ihrer Innerlichkeit finden, sieht unterschiedlich aus. Was für die eine Person stimmig ist, stresst die andere. Manche werden schon beim Gedanken an das Führen eines Tagebuchs nervös, andere hingegen erleben genau das als hilfreich. Sehr aktive Menschen gewinnen Abstand zum Alltag und Nähe zu sich selbst, indem sie moderat Sport machen oder spazieren gehen. Andere widmen sich einem Hobby, etwa dem Gärtnern oder Malen, manche zieht es auf ein Meditationskissen oder sie suchen regelmäßig einen stillen Kirchenraum auf.

Wie sehen für Sie die passenden Weisen aus, um mit sich selbst allein zu sein? Um darauf eine Antwort zu finden, können Sie sich selbst beobachten. Welche Arten des Innehaltens bereiten Ihnen Freude? Was tut Ihnen besonders gut und fällt Ihnen leicht? Und dann: einfach machen!

Stille: Heilfasten des Geistes

Die Heilkraft der Stille ist vielfach erforscht. Sie erfrischt mental und macht kreativ. Sie entrümpelt den Geist, auf den tagtäglich allzu viel einstürmt. Sie schärft unsere Aufmerksamkeit für unsere Werte und Wünsche, unsere Möglichkeiten und Kräfte. Und verringert auf diese Weise auch unsere Manipulierbarkeit. Denn in dem Maß, in dem ich regelmäßig innehalte, finden ich jenen inneren Halt, den es braucht, um entschieden Nein oder Ja sagen zu können. In der Stille erobere ich mir einen Raum der Freiheit.

Von der Kraft der Stille erzählt auch eine bekannte Weisheitsgeschichte:

Eines Tages kamen einige Menschen zu einer Eremitin und fragten sie: „Was für einen Sinn hat es, dass du der Stille und Meditation so viel Zeit widmest?“ Die Eremitin schöpfte gerade Wasser aus einem tiefen Brunnen. Sie antwortete: „Blickt in den Brunnen. Was seht ihr?“ Die Leute schauten in den tiefen Brunnen: „Wir sehen Wellen!“

Nach einiger Zeit forderte die Eremitin sie erneut auf, in den Brunnen zu schauen: „Was seht ihr jetzt?“ Die Besucher blickten wieder hinunter: „Wir sehen uns selber.“ – „Das lässt sich auch in der Stille und Meditation erfahren: Man sieht sich selber“, erläuterte die Frau und forderte sie auf, noch eine Weile zu warten.

Als die Gäste nach einiger Zeit wiederum in den Brunnen schauten, sagten sie: „Nun sehen wir die Steine auf dem Grund des Brunnens.“ Da erklärte die Eremitin: „Darin liegt das Geschenk von Stille und Meditation: Wenn man lange genug wartet, sieht man den Grund aller Dinge.“

In anschaulicher Weise verdeutlicht diese Geschichte, warum viele Menschen Stille auch als ein spirituelles Geschehen erleben. Es lässt sich vielleicht so beschreiben: Wartet man in der Stille lange genug, bis die inneren Stimmen verstummen, die einen aufwühlen, dann lässt sich bisweilen erleben:

Ich kann einfach sein, ohne etwas leisten oder machen zu müssen. Nichts und niemand will etwas von mir – nicht einmal ich selbst.

Wer so in die Stille eintaucht, wird manchmal einen umfassenderen Grund erahnen, der alles trägt und hält. Und darin liegt nach meiner persönlichen Erfahrung das tiefste Glück der Stille: Sie macht einen göttlichen Grund wieder fühlbar, der mich selbst und alles von innen her trägt. Wer mit diesem göttlichen Quell in Verbindung steht, erfährt Stimmigkeit und Sinn, auch inmitten von Nöten und Krisen.


Zum Weiterlesen:

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