Reue Fehler

„Das verzeih ich mir nie!“ – Über Schuldgefühle und Schritte in ein versöhntes Leben

Wir alle verhalten uns mal mies oder unbedacht und werden schuldig an anderen. In diesem Beitrag erfährst Du, wie Du dein Verhalten ehrlich in Blick nimmst und Schritte in ein neues, versöhntes Leben gehst.

„Ich kann mir nicht vergeben, dass ich meiner verwirrten Schwiegermutter eine Unterschrift abgetrickst habe, damit sie quasi freiwillig ins Altersheim umzieht. Mit der externen Pflegehilfe kam sie in ihrem eigenen Wohnbereich nämlich noch recht gut zurecht und hat sogar jeden Tag die Katzen gefüttert. Doch die ewig gleichen Gespräche mit ihr waren für mich unerträglich geworden, und außerdem wollte ich mehr Raum für meine eigene Familie … Wenige Wochen nach dem Umzug ist meine Schwiegermutter, die ihr ganzes Leben auf dem Bauernhof verbracht hatte, gestorben. Die Entwurzelung hat ihre Lebenskraft gebrochen. Ich habe ihren Lebenswillen gebrochen.“ Die Not stand der Schwiegertochter, einer Rechtsanwältin, ins Gesicht geschrieben. Und sie fragte sich: „Wie soll ich mit meiner Schuld leben? Ich kann mich nicht einmal mehr bei meiner Schwiegermutter entschuldigen. Werde ich mir meinen Egoismus je verzeihen können?!“

Hinter diesen qualvollen Fragen steht die Erfahrung: Es fällt schwer, Vergebung anzunehmen. Schwerer noch, anderen zu vergeben. Am schwersten fällt es aber wohl, sich selbst zu vergeben. Den eigenen Seelenfrieden trotz der eigenen Schuld wiederzufinden.

Aber kann man sich überhaupt selbst vergeben? – Strikt genommen: Nein! Wenn ich an jemandem schuldig geworden bin, dann kann allein die betroffene Person mir vergeben. Ich kann zwar mit aufrichtigem Herzen mein Bedauern ausdrücken, um Entschuldigung bitten und mich um Wiedergutmachung bemühen, doch mich selbst zu entschulden gelingt nicht. Denn weder vermag ich mein Versagen rückgängig zu machen noch mich von dessen Folgen freizusprechen. Die Schuld lastet umso schwerer, wenn die betroffene Person verstorben und kein Gespräch mehr mit ihr möglich ist.

Mit sich ins Reine kommen

Auf welche Weise können wir uns mit Schuldgefühlen und eigenem Fehlverhalten auseinandersetzen, so dass wir mit uns selbst neu ins Reine kommen? Was sind wichtige Schritte, um wieder mehr mit uns selbst und mit anderen verbunden zu sein? Hier einige kurze Hinweise (mehr dazu in meinem Podcast-Folge „Wie du mit dir ins Reine kommst, wenn du Mist gebaut hast“):

Mehr sehen

Immer bildet die konkrete Geschichte den Ausgangspunkt, um eigene Schuld verarbeiten zu können. Um diesen Punkt genauer zu fassen, helfen Fragen wie: Was habe ich getan? Was habe ich unterlassen? Wofür fühle ich mich schuldig?

Mehr verstehen

Alles, was Du tust, ist eingebettet in lebensgeschichtliche und soziale Zusammenhänge. Dein konkretes, sichtbares Verhalten gleicht der Spitze eines Eisberges. Dessen größter Teil aber liegt unter Wasser und bleibt dem Auge verborgen. Ähnlich verschließen sich die Tiefenschichten deines Handelns einer oberflächlichen Betrachtung. Das bedeutet: Du wirst ein eigenes Fehlverhalten erst dann besser verstehen, wenn Du in Blick nimmst, welche Umstände oder lebensgeschichtlichen Hintergründe dazu beigetragen haben. Denn niemand ist eine Insel. Vielmehr sind wir in unserem Fühlen und Handeln vielfach geprägt und beeinflusst. Nur wenn wir in größeren Zusammenhängen denken, gewinnen wir daher ein angemessenes Verständnis für unser Tun und Lassen.

Als die Frau, die ihre Schwiegermutter ins Heim bugsiert hatte, sich auf eine solche Erkundungstour macht, kommt ihr eine prägende Erfahrung aus ihrer eigenen Kindheit: In ihrer Familie hatte die Privatsphäre so gut wie keinen Schutz genossen. Ständig kam es zu Grenzüberschreitungen – insbesondere vonseiten ihrer Mutter, die trotz heftiger Konflikte immer wieder hinter ihr her geschnüffelt oder sie neugierig ausgequetscht hatte. Die Rechtsanwältin sieht einen Zusammenhang zwischen diesen Erfahrungen und ihrem eigenen Verhalten gegenüber ihrer Schwiegermutter. Sie erkennt ihren – lebensgeschichtlich mitbedingten – allzu großen Wunsch nach einem geschützten Raum und ihre mangelnde Fähigkeit, in einer guten Art und Weise Grenzen ziehen zu können. Diese Einsicht in biografische Hintergründe ändert nichts daran, dass die Frau ihr Verhalten als falsch erachtet und es bereut, aber sie bringt sich gegenüber mehr Verständnis auf, warum sie so gehandelt hat.

Wenn auch Du ein eigenes Fehlverhalten besser verstehen willst, dann such Dir jemanden, mit dem oder der Du offen und ungeschminkt reden kannst. Diese Person sollte nicht in den Konflikt verstrickt sein und die Fähigkeit haben, Dir gut zuzuhören. Ebenso bedeutsam ist, dass sie im Gespräch nicht richtet oder moralisiert. Und dass sie den Mut hat, herausfordernde Fragen zu stellen, andere Perspektiven aufzuzeigen und ehrliche Rückmeldungen zu geben.

Ach, hätte ich doch bloß…

Angenommen, Du hast das Vertrauen eines Menschen, den Du liebst, missbraucht und ihn dadurch tief verletzt: Je mehr Du siehst und nachempfindest, was Du angerichtet hast, umso mehr wirst Du dir vermutlich wünschen, es ungeschehen machen zu können. Trauer und Reue über das eigene Verhalten steigen auf …

Reue schafft neue Handlungsmöglichkeiten.

Dies mag auf den ersten Blick überraschen, denn Reue bezieht sich ja auf Vergangenes und geht mit dem Bedauern einher: „Ach, hätte ich bloß …“ Doch genau damit weist das Empfinden auch nach vorn. Das bittere oder bereuende „Ach, hätte ich doch besser …“ lehrt nämlich zugleich: Es gibt ein Besser. Ich kann in Zukunft anders, wenn möglich besser handeln. – In der Folge kann man der betroffenen Person eingestehen, dass man Mist gebaut hat, und sie um Vergebung bitten. Man kann sich um Wiedergutmachung bemühen. Eine Kurskorrektur vornehmen und in Zukunft anders, wenn möglich besser handeln.

Selbstvertrauen Fehler

Bejahen, ein Mensch zu sein, der Fehler macht

Wenn Du bejahst, ein fehlbarer Mensch zu sein, der – wie alle anderen Menschen – auf Nachsicht und Vergebung angewiesen ist, wirst Du frei. Wirst Du frei(er) von Schuldgefühlen oder vom überfordernden Anspruch der Fehlerlosigkeit. Die abwertenden und bitteren Vorwürfe gegenüber Dir selbst klingen ab und ein innerer Friede breitet sich aus.

Durch einen solchen Friedensschluss mit Dir selbst findest Du in eine neue Freiheit. Denn wenn Du dich mit deiner Schuld aussöhnst, dann nimmst Du ihr die Macht, die sie ansonsten immer noch ausübt, indem sie Dir etwa Angst oder Ohnmacht, Resignation oder ätzende Selbstabwertung einflößt. Du kommst mit Dir selbst mehr ins Reine. Die Freundschaft mit Dir selbst vertieft sich und Du findest zu einem erfüllteren Leben mit anderen.

Mich als bejaht bejahen

Doch woher die Kraft nehmen, sich selbst anzunehmen, wenn man nicht so ist, wie man gerne wäre?

Freundschaften bilden eine wesentliche Quelle, um eine tragfähige und wohlwollende Beziehung zu uns selbst zu entwickeln. Menschen, die uns annehmen mit unserem Lichten und Dunklen, mit unserer Größe und Schuld. Erleben wir, „einfach so“ geliebt zu sein, dann hilft dies, uns selbst auf einer immer tieferen Ebene zu bejahen.

Viele spirituelle Menschen – und auch ich persönlich – erfahren den Glauben als eine wichtige Quelle, um zu einem solchen Ja zu sich selbst zu finden – mit den eigenen Macken und Meisen, Schuld und Schwäche. Komme ich mit der göttlichen Wirklichkeit in Berührung, öffnet sich eine Tür, die aus den angstbesetzten Räumen der Selbstoptimierung oder der Selbstverachtung herausführt. In der Begegnung mit dem göttlichen Ja kann ein tragfähiges Ja zu mir selbst heranreifen. Oder anders gesagt: Glauben meint, sich als bejaht bejahen.

Dieses Journal ist ein Auszug aus meinem Buch „Freunde fürs Leben. Von der Kunst, mit sich befreundet zu sein“, Adeo-Verlag 6. Auflage 2021, Seite 162-172
Fotos: © Eliza/photocase.com

Buchcover Freunde fürs Leben. Von der Kunst mit sich selbst befreundet zu sein.

Lesetipp:

Wenn wir Freundschaft mit uns selbst schließen, befreien wir uns vom Druck, uns ständig optimieren zu müssen. Dann können wir unsere Stärken ins Spiel bringen und uns Fehler und Schwächen eingestehen, ohne uns dabei schlecht zu fühlen.

In der Freundschaft mit sich selbst liegt ein entscheidender Schlüssel zum Glück. Denn schließlich sind wir selbst der Mensch, mit dem wir rund um die Uhr zusammenleben.