Gut drauf sein ist angesagt! Und wer sich mies fühlt oder gar lange Zeit unter Trauer und Kummer leidet, gilt als Versager. Hier erfährst Du, warum viele glücklicher wären, wenn sie auch mal unglücklich sein dürften. Und wie schwere Zeiten lebbar werden.
Das Lächeln seines Freundes erfährt Stiller als ein Geschenk des Himmels, denn es erlöse ihn von vielem Getue und lasse ihn einfach sein. Und Stiller fährt fort: „Nur wo einer selbst einmal geweint hat und sich selbst zugibt, daß er geweint hat, erblüht so ein gutes, in seinem Wissen sehr präzises … Lächeln.“ Dies notiert Stiller, der Protagonist des gleichnamigen Romans von Max Frisch, in seinen Haftaufzeichnungen. Als Jugendliche habe ich das Buch gelesen, und seitdem hat mich die Beschreibung nicht mehr losgelassen: ein Lächeln, dem man die geweinten Tränen ansieht. Eine Heiterkeit, in der Freude und Trauer, Lachen und Weinen, Singen und Klagen Platz haben. Doch eine solche Heiterkeit ist gar nicht einfach in einer Gesellschaft, die das Glück vorzugsweise in der „guten Stimmung“ sucht und länger anhaltende Traurigkeit gleich für den Beginn einer Krankheit hält.
Unsere Lebensmelodie ist nicht nur in Dur komponiert
Die Annahme, dass Gut-drauf-Sein der Normalzustand des Lebens sei, illustriert die Rede von der „traurigen Verstimmung“. Diese Redewendung setzt nämlich indirekt die Freude als den eigentlichen Grundton unseres Lebens voraus. Als ob unsere Lebensmelodie von Natur aus nur in Dur komponiert wäre. Wenn sich andere Töne in unser Leben mischen – wenn wir uns unglücklich, bedrückt oder melancholisch fühlen – fühlen wir uns verstimmt. Fragen uns möglicherweise, was mit uns nicht stimmt, und versuchen schnellstmöglich, uns wieder in Stimmung zu bringen – so wie man eben ein schräg klingendes Instrument wieder richtig intoniert.
Vor einiger Zeit wurde ich Zeugin eines typischen Wortwechsels, der sich der Überzeugung verdankt: Wer nicht glücklich ist, sollte dies schleunigst beheben! Gefragt, wie es ihm ginge, antwortete ein etwa fünfzigjähriger Mann, dass er an einem Burnout leide und einfach nicht auf die Beine komme. Seinem Gesprächspartner war es offensichtlich unangenehm, dass sein Bekannter ihm von seinen Schwierigkeiten erzählte. Und in gut österreichischem Deutsch ermunterte er ihn: „Du musst oafach nur aussi kraxeln! Dann schaut alles scho ganz anders aus.“
Die meisten haben das vermutlich schon erlebt, eine breite Palette an Lösungstipps offeriert zu bekommen, als es ihnen mies ging, und sie auch noch die Naivität besaßen, darüber zu sprechen. Da wird einem geraten: „Verabrede dich mal mit jemandem!“ „Such dir eine neue Stelle!“ „Gönn dir mal was Gutes, vielleicht einen Wellnesstag?!“ Jeder dieser Vorschläge enthält die subtile Botschaft: „Du hast es in der Hand, gut drauf zu sein. Selbst schuld, dass du unglücklich bist.“
Die Erwartung, dass das Leben aus Spaß besteht, lässt alle, die sich unglücklich fühlen, gleich dreifach leiden: Erstens fühlen sie sich unglücklich. Zweitens müssen sie sich Vorwürfe anhören, dass sie nicht genügend für ihr Glück investieren. Und drittens tendieren viele dazu, sich selbstkritisch zu beäugen, denn: „Alle anderen sind glücklich, bloß ich nicht! Was mache ich nur falsch?“ Zu diesem Leiden gesellt sich dann noch der kräftezehrende Druck, anderen vorgaukeln zu müssen, gute Laune zu haben. Denn wer unzufrieden ist, steht im Verdacht, ein Versager oder eine Versagerin zu sein. Und wer will schon als Loser gelten? Es klingt paradox, trifft aber zu: Viele wären glücklicher, wenn sie auch mal unglücklich sein dürften!
Es verwundert nicht, dass vor diesem Hintergrund immer mehr Leute versuchen, ihre „traurige Verstimmung“ wegzutherapieren. Heute wird der Optimierungskampf gegen Unglücklichsein zunehmend chemisch geführt. Tiefer Kummer wird zur depressiven Verstimmung, gegen die in großer Zahl Stimmungsaufheller und Antidepressiva verordnet werden.
Es gibt gute Gründe, traurig zu sein
Aber es gibt gute Gründe, traurig zu sein! Ein realistischer Blick zeigt die Unausweichlichkeit des Leidens. Vieles, was uns unglücklich macht, haben wir nicht in der Hand, sondern bricht ungefragt über uns herein: der Verlust des Arbeitsplatzes, ein schwerer Unfall, gesellschaftliche Konflikte …
Traurigsein kann aber auch damit zusammenhängen, dass wir eine Situation verfehlt haben. Etwa wenn jemand die Gelegenheit verpasst hat, einer anderen Person seine Liebe zu gestehen. Oder mit seiner alternden Mutter Zeit zu verbringen. Nun hat die Demenz sie voll im Griff und die Chance eines persönlichen Gesprächs ist unwiderruflich vorübergegangen. Vor allem aber meldet sich Trauer zu Wort, wenn wir uns von einem vertrauten Menschen verabschieden: wenn die Kinder das Haus verlassen. Wenn der Partner oder die Partnerin beruflich mehrere Monate ins Ausland reisen muss. Wenn ich nach einem gemeinsamen Urlaub mit Freunden weiß, dass ich sie erst in einem Jahr wiedersehe. In all diesen kleinen Abschieden klopft der ultimative Abschied an die Tür: der Tod. Und wenn ein geliebter Mensch stirbt, dann weicht die Trauer darüber oft viele Jahre nicht von unserer Seite.
Aber auch ohne konkrete Anlässe kann eine melancholische Traurigkeit einen erfassen: Wenn ich ahne, dass mir jederzeit der Boden unter den Füßen wegbrechen kann. Wenn mir aufgeht, dass alles vom Menschen Geschaffene keinen Bestand hat. Wenn mir bewusst wird, dass der Sinn meines Lebens fragwürdig ist und ich zu keiner sicheren Antwort finden werde.
All dies zeigt: Traurig sein zu können ist ein Zeichen seelischer Gesundheit! Und das tragische Bewusstsein eines melancholisch gestimmten Menschen wird der Wirklichkeit gerechter als eine künstlich erzeugte Heiterkeit, die jegliche Abgründigkeit des Lebens leugnet.
Kann Traurigsein glücken?
Kein Zweifel: Es tut weh, unglücklich zu sein! Trauern schmerzt. Was hilft, dass das Traurigsein „glückt“? Ein Erstes kann darin liegen, die eigene Traurigkeit zu entdramatisieren und damit auch zu normalisieren. Dass wir nicht pausenlos auf Wolke sieben schweben, sondern uns auch mal unglücklich fühlen oder einen tiefen Kummer spüren, ist durch und durch menschlich und gehört zur Polarität unseres Lebens. Unser Leben schwankt zwischen Zeiten, in den wir fröhlich sind; Zeiten, in denen wir uns traurig fühlen und Zeiten des Dazwischen, dem grauen Alltag. Erst das Gesamtpaket macht die Fülle des Lebens aus.
Zur Kunst des Unglücklichseins könnte des Weiteren gehören, dass wir einem tristen Tag sein Daseinsrecht zugestehen. Durch den dunkel verhangenen Himmel gelangt kein Lichtstrahl in unser Inneres. Wenn wir dies akzeptieren, ja vielleicht sogar bejahen, lässt sich erfahren, dass unsere Seele in Zeiten der Trauer Atem holt – so ähnlich wie ein Regentag einen bisweilen zur Ruhe kommen lässt.
Ein dritter Gedanke: Oft werde ich als Ordensfrau gefragt, ob mein Glaube mich der Trauer und Angst enthebt. Meine Antwort lautet: Nein! Mir erscheint es als eine nachvollziehbare, aber infantile Versuchung, gegen die eigene Trauer oder Ohnmacht anbeten zu wollen. Im Glauben eröffnet sich ein Horizont, in dem ganz im Gegenteil alles Platz hat – auch die Einsamkeit und Not, die Trauer und Ohnmacht. Ich muss sie nicht besiegen oder bewältigen, nicht verdrängen oder ausblenden. Vielmehr kann ich sie nah an mich heranlassen – dank der Hoffnung, dass es jenseits aller Dinge ein Herz gibt, dass alle Widersprüche vereinen kann.
Podcast-Folge 9 „Bin schlecht drauf. Auch gut!?“
Lesetipp:
Warum scheuen wir uns, Entscheidungen zu treffen? Woher kommt es, dass wir so zögerlich oder gar ängstlich sind? Dass wir uns schwertun, etwas zu wagen?
Wie wir mutig werden und uns trauen, das eigene Leben zu leben – darum geht es in diesem Buch.
Vgl. zum Text: Melanie Wolfers, Trau dich, es ist dein Leben. Von der Kunst, mutig zu sein, bene! Verlag, ET 2018, 6. Auflage, S. 196-199.
Melanie Wolfers, Freunde für Leben. Von der Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein, Adeo Verlag 6. Auflage 2020, S. 73-78.