Selbstoptimierung

Warum Selbstoptimierung unser Selbstwertempfinden schwächt

Warum zweifeln Menschen so schnell an sich und ihren Fähigkeiten? Woher kommt das Gefühl, dass alle anderen besser sind und man selbst unzulänglich? – Darum geht es in diesem Beitrag. Und darum, wie Du dieses Empfinden „einhegen“ und zu mehr Vertrauen in Dich und das Leben finden kannst.

Viele Menschen zweifeln an sich und haben das Gefühl, unzulänglich zu sein. Im Hintergrund stehen oft biografischen Erfahrungen: Die meisten haben durch direkte oder indirekte Botschaften ihrer Eltern gelernt, dass sie so, wie sie sind, nicht wirklich in Ordnung sind. Das natürliche Erleben des Selbstwertes wurde fundamental verletzt durch Botschaften wie „Du bist liebenswert, wenn … – du brav bist; du nicht störst; du erfolgreich oder hilfsbereit bist.“ In der Folge glaubten wir selbst daran, wir seien nur liebenswert, wenn wir brav und hilfsbereit sind oder wenn wir alle Aufgabe mit Bravour bewältigen. Und natürlich haben wir uns entsprechend bemüht, uns die Liebe und Zuneigung unserer Eltern zu verdienen.

Solche verinnerlichten Glaubenssätze prägen einen dann oft auch im Erwachsenalter. In der Folge verlange ich von mir, zuerst die Bedürfnisse aller anderen zu erfüllen und die eigenen beiseite zu schieben, um angenommen zu sein. Oder ich meine, viel arbeiten und Herausragendes leisten zu müssen, um existenzberechtigt zu sein. In alldem meldet sich die latente Grundüberzeugung zu Wort: „So, wie ich bin, bin ich nicht liebenswert. Bin ich nicht okay.“

Selbstoptimierung schwächt

Hinzu kommt, dass die gegenwärtige Kultur das Empfinden verstärkt, nicht zu genügen. Die Welle der Selbstoptimierung hat alle Lebensbereiche geflutet. Ständig gilt es, an sich zu arbeiten – am Auftreten, an der Durchsetzungskraft oder der inneren Ruhe. Aber unglücklicherweise lässt sich auch das Beste immer noch optimieren. Das bedeutet:

Das Streben nach Selbstverbesserung nährt indirekt das Gefühl, unzulänglich zu sein. Es suggeriert uns, dass wir Mängelwesen sind: Wesen, die nie genug Erfolg haben, nie genug Geld, gutes Aussehen, Einfluss, Sex, Charisma, Fitness, Freunde …

Das Empfinden, nicht zu genügen, schmerzt! Es verstärkt die Sorge, vor den Augen anderer nicht bestehen zu können. Und es greift das Sensibelste in uns an: das Selbstwertgefühl.

Paradise lost

Ich bin überzeugt: Die Verunsicherung im Erleben des eigenen Selbstwertes ist in der Tiefe auch eine spirituelle Verwundung! Wir Menschen können nicht mehr glauben, dass wir so, wie wir sind, wirklich liebenswürdig und wertvoll sind. Wir vermögen nicht mehr unseren Selbstwert zu spüren. Und dieses „nicht mehr“ ist hier von Bedeutung.

Fast alle großen Religionen erzählen von einem ursprünglichen Paradies. Dieses Bild drückt die Ahnung aus: In seinem Ursprung ist der Mensch heil und ganz. Von jeher ist er in einen großen göttlichen Zusammenhang eingebettet. Die Bibel erzählt in vielen Bildern von dieser ursprünglichen, der „eigentlichen“ Beheimatung. Ein grandioses Bild: Der Mensch ist Tochter oder Sohn Gottes. Was für ein selbstbewusstes Vertrauen meldet sich hier zu Wort: Mein kleines Leben verdankt sich einem göttlichen Ursprung und trägt eine göttliche Spur in sich. Und was für eine folgenreiche Überzeugung: Jede und jeder – auch mein anstrengender Schwiegervater, meine schwierige Nachbarin und mein Intimfeind – verdanken sich demselben göttlichen Ursprung und tragen göttliches Leben in sich.

Und doch fehlt dem Menschen genau das: ein Urvertrauen in das Geheimnis des Lebens; ein Vertrauen untereinander; und ein Wissen um das göttliche Licht, das mich und alle von innen her durchstrahlt. Vielmehr ist mein Leben geprägt von Vertrauen und Misstrauen, von Geborgenheit und Angst. Und ich hungere nach einem Leben im Einklang mit mir selbst und verbunden mit anderen. In der Erzählung vom Verlust des Paradieses drückt die Bibel diesen Verlust der „eigentlichen“ Beheimatung bildlich aus.

Der Sinn von Religion liegt genau darin: Dass sie inspiriert und unterstützt auf der Reise ins wahre Leben.

Und spirituelle Übungen wie Gebet oder Meditation zielen darauf, dass sich die Wahrnehmung verfeinert: Dass meine Augen für einen Moment sehen und meine Ohren für einen Moment hören, was mich und alles im Grunde immer schon umgibt und von innen her trägt: göttliches Leben. Und dass ich mich in dieses Leben hineinfallen lasse.

Was tun?

In der Podcastfolge „Was halten die anderen von mir? Und was bedeutet das für mich?“ stellt Andreas Bormann mir die Frage:

Nichts macht manipulierbarer als der Wunsch, von allen Menschen gemocht zu werden. Aber wie mache ich mich von der Sicht anderer unabhängiger?

Andreas und ich sprechen intensiv über das Selbstwertempfinden als einem Schlüssel zu dieser inneren Freiheit. An dieser Stelle möchte ich nur einen Punkt nennen: Ich möchte Dich zu einer Selbsterkundung anregen, ob und wenn ja, wo Du zu abhängig bist von der Meinung anderer. Eine solche Spurensuche lohnt sich, denn Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung!

Vielleicht magst Du Dir Zeit nehmen, um in Ruhe über folgende Fragen nachzudenken:

  • Welche Personen üben in meinem Entscheiden und Handeln einen starken Einfluss auf mich aus? Gebe ich jemandem eine zu große Macht?
  • Gibt es Themen, Aufgaben oder Lebensbereiche, bei denen ich dazu neige, mich übermäßig nach anderen zu richten?
  • Woran merke ich, dass ich meine Wünsche oder Überzeugungen unter den Tisch fallen lasse, nur um zu gefallen? Spüre ich in mir Ärger, Unzufriedenheit, Unruhe…?
  • Ich rufe mir eine Situation in Erinnerung, von der ich heute weiß, dass ich es in erster Linie anderen recht machen wollte und mich dabei selbst vernachlässigt habe: Wie kam es dazu? Welche negativen Konsequenzen entstanden daraus für mich oder für andere? Wie würde ich heute entscheiden, wenn ich nochmals die Chance dazu hätte? Was wäre dadurch anders?
  • „Wer sich vor allem daran orientiert, nicht anzuecken oder beklatscht zu werden, der vergisst, wie man sich fühlt, wenn man mutig gewesen ist.“ Ich erinnere mich an eine Entscheidung, in der ich meiner Angst vor den Reaktionen anderer getrotzt habe: Wie fühlt(e) es sich an, mutig gewesen zu sein? Worin liegen für mich Mutmacher-Quellen?

Die eine oder andere Notiz in ein Tagebuch kann hilfreich sein. Und ich persönlich erlebe es als sehr bereichernd, wenn ich mich mit einem vertrauten Menschen über diese Fragen austausche…

Trau dich Wolfers

Lesetipp:

Warum scheuen wir uns, Entscheidungen zu treffen? Woher kommt es, dass wir so zögerlich oder gar ängstlich sind? Dass wir uns schwertun, etwas zu wagen?

Wie wir mutig werden und uns trauen, das eigene Leben zu leben – darum geht es in diesem Buch.

Dieses Journal ist ein bearbeiteter Auszug aus meinem Buch „Trau dich, es ist dein Leben. Die Kunst, mutig zu sein“, bene! Verlag 5. Auflage 2022, S. 59-66
Fotos: © Eliza/photocase.com, © Jonathan Schöps/photocase.com