Beziehung Liebe Verletzlichkeit

Vom Geheimnis guter Beziehungen

Dem anderen offen sagen, wie fürchterlich es sich gerade anfühlt, was er gesagt hat. Sich zeigen, wenn man sich unsicher, gekränkt oder traurig fühlt – das fällt schwer. Und doch: Nur wenn wir uns in einer Beziehung ehrlich zeigen und verletzlich machen, kommen wir uns nah.

Mit großer Spannung habe ich Studien der Autorin und Sozialwissenschaftlerin Brené Brown gelesen, die untersucht: Was befähigt Menschen, erfüllende Beziehungen zu führen? In zahlreichen Interviews hat Brown festgestellt: Personen, die sich mit anderen verbunden fühlen, bringen dies in einen direkten Zusammenhang mit einer wesentlichen Fähigkeit: Dass sie sich in einer Beziehung verletzlich machen können und die eigenen Unvollkommenheiten nicht schamhaft verbergen müssen.

Sich zu öffnen kann bedeuten: Ich erzähle meinem Freund von meiner Panik, zur Krebsvorsorge zu gehen. Ich schlucke meine Enttäuschung nicht hinunter, dass meine Frau den Hochzeitstag vergessen hat, sondern gestehe ihr, wie traurig mich das gemacht hat. Ich wage es, um etwas zu bitten, anstatt um jeden Preis allein klar zu kommen. Ich spreche von meiner Scham, dass ich auch heute wieder einen weiten Bogen um das Telefon gemacht habe, weil mir der Mut fehlt, meinen Schwiegersohn anzurufen und mich bei ihm zu entschuldigen.

Der Grundrhythmus von Freundschaft und Liebe

Wagen wir es, uns ehrlich zu zeigen, dann geben wir uns selbst ein Stückchen preis. Unsere Offenheit kann schmerzhaft zurückgewiesen werden oder ins Leere laufen. Sie kann aber auch die gegenseitige Nähe vertiefen oder erneuern. Natürlich, es braucht Mut, die Grenzen zu überschreiten, die unsere Angst und Scham um uns errichten! Doch nur, wenn wir in unseren Freundschaften und Liebesbeziehungen solche Schritte ins Ungewisse wagen, geben wir unserer Beziehung die Chance, dass sie lebendig bleibt und sich vertieft.

Der Grundrhythmus von Freundschaft und Liebe „is simple, but not easy“: Je offener und verletzlicher wir uns einander zeigen, umso mehr berühren wir einander innerlich. Und je mehr wir uns einander nähern, umso bereichernder erfahren wir unsere Beziehung.

Die amerikanische Psychotherapeutin Virginia Satir hält fest: „Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Kontakt.“ In einer Freundschaft oder Partnerschaft kann das konkret bedeuten, dass triviale Dinge auch trivial bleiben und nicht aufgebläht werden.

Wie Belanglosigkeiten belanglos bleiben

Christine kommt spät von der Arbeit zurück. Ihr Mann Stefan freut sich darauf, die Reiseführer anzuschauen, um den gemeinsamen Urlaub zu planen. Doch Christine hat die vorbestellten Bücher nicht abgeholt. Er verliert die Fassung, dass sie das vergessen konnte. Sie ärgert sich, dass er nicht sieht, wie viel sie arbeitet. Wie bei einem Ping-Pong-Spiel fliegen erbitterte Vorwürfe hin und her. Türen knallen. Beide fühlen sich unverstanden und verkriechen sich in ihren Bau.

Am nächsten Abend fasst Stefan den Mut, aus seiner Schmollecke herauszukommen und von seinen Gefühlen zu erzählen. Es entwickelt sich ein Gespräch, in dem die unsicheren Gefühle der beiden Raum bekommen – Gefühle, die ihrer und seiner Wut jeweils zugrunde liegen: Stefans Schmerz, dass er Christine anscheinend so wenig bedeutet. Christines Verzweiflung, dass er ihre Leistung nicht sieht und anerkennt.

Liebe Partnerschaft

Die Beiden erreichen einander, fühlen sich verstanden. Und sie sehen, welche bedrohlichen Ängste bei ihnen beiden mitschwingen. Indem sie die Ängste teilen, die sie voreinander haben, entdecken sie, dass diese mehr mit ihrer eigenen Kindheitsgeschichte zusammenhängen als mit der konkreten Situation heute.

Wenn es gelingt, einander zu erreichen, dann mutieren Mücken nicht zu Elefanten. Dann bleiben vergessene Reiseführer vergessene Reiseführer. Sie wandeln sich nicht zum Schreckgespenst, dass ich dem anderen gleichgültig und nicht liebenswert bin. Mache ich jedoch die Schotten dicht und verschließe mich in meiner eigenen Welt, dann verwandeln sich liegengebliebene Bücher in den bedrohlichen Beweis, dass der andere mich bald sitzen lässt.

Nähe entsteht, wenn wir unsere Innenwelt sichtbar machen, die für den anderen verborgen ist. Wenn wir es riskieren, uns mit unseren weichen Seiten und Gefühlen ins Spiel zu bringen. Nähe schwindet, wenn wir innerlich zumachen: Wenn wir verbergen, was und dass überhaupt etwas in uns vorgeht.

Den Kinofilm zeigen, der innerlich gerade in mir abläuft

Macht jemand seine innere Welt sichtbar, dann bewegt er sich auf den anderen zu. Brené Brown prägt für diesen Prozess die schöne Formulierung: „Die Geschichte, die ich mir gerade erzähle“. Erzählen wir dem anderen, welche Geschichte wir uns im Stillen gerade erzählen, dann birgt dies viele Chancen: Wir klagen den anderen nicht an, sondern erzählen von unserem bedrängenden Gefühls- und Gedankenkino. Weil der andere in keine Rechtfertigungsposition gedrängt wird, wird es ihm leichter fallen, wirklich zuzuhören. Zugleich zeigen wir, dass uns die andere Person wichtig ist. Wir teilen unsere innere Welt mit ihr, damit diese nicht zwischen uns steht. Und schließlich nehmen wir eine distanzierte Haltung zu uns selbst ein. Wir schauen gewissermaßen von außen auf den Kinosaal. Wenn wir dann einen Realitätsabgleich machen, kommen wir möglicherweise zu der befreienden Einsicht: „Glaub nicht alles, was du denkst!“

Trau dich Wolfers

Lesetipp:

Warum scheuen wir uns, Entscheidungen zu treffen? Woher kommt es, dass wir so zögerlich oder gar ängstlich sind? Dass wir uns schwertun, etwas zu wagen?

Wie wir mutig werden und uns trauen, das eigene Leben zu leben – darum geht es in diesem Buch.

Dieses Journal ist ein Auszug aus meinem Buch “Trau dich, es ist dein Leben. Die Kunst, mutig zu sein”, bene! Verlag 4. Auflage 2021, S. 83-86.
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