Melanie Wolfers

Goodbye, Perfektionismus!

Wie es Perfektionisten immer wieder gelingt, sich das Leben schwer zu machen

Seit geraumer Zeit sitze ich vor dem leeren Bildschirm meines PC‘s. Verschiedenste Entwürfe für das Schlusskapitel meines neuen Buches habe ich bereits gelöscht. Denn innere Stimmen kommentieren bissig jeden Entwurf: „Banal! Wenig durchdacht! Holprig formuliert!“ Schon geistern Selbstzweifel in meinem Kopf herum – und der nächste Kapitelentwurf landet im elektronischen Papierkorb … Bis mir irgendwann dämmert: Melanie, dein Perfektionismus lässt mal wieder grüßen.


Hinter der viel besprochenen Schreibhemmung verbirgt sich eine recht verbreitete Angst: Dass man sich durch sein kreatives Tun oder seine Arbeit angreifbar macht. Diese Angst kennen viele. Denn es birgt immer ein Risiko, wenn wir unsere Kreativität zum Zug kommen lassen. Etwa wenn wir eine ungewöhnliche Idee ins Arbeitsteam einbringen. Wenn wie einen eigenen Slam-Poetry präsentieren oder wenn wir einfach mal quer denken. Vor dem inneren Auge werden wir bereits ausgelacht: für die peinlichen Ideen und unterirdischen Fähigkeiten. Und die Angst sitzt einem im Nacken, was andere denken und sagen könnten.

Das Streben, Dinge 110‑prozentig zu erledigen, darf nicht mit dem Bemühen verwechselt werden, etwas besonders gut zu machen! Das Vollkommenheitsstreben soll einem vielmehr Kritik und Tadel vom Hals halten. Es lebt von der fatalen Grundüberzeugung: „Wenn ich perfekt aussehe und alles perfekt mache, dann kann ich die schmerzhaften Gefühle von Versagen und Ablehnung vermeiden.“ Und damit verbunden ist Perfektionismus der Versuch, Anerkennung und Bestätigung zu erhalten – aufbauend auf dem verhängnisvollen Glaubenssatz: „Ich bin, was ich zustande bringe. Ich bin, was ich leiste und erreiche.“

Perfektionismus: Die perfekte Blockade

Perfektionismus ist selbstzerstörerisch! Es gibt nämlich keine Perfektion. Natürlich, es mag gelingen, dass ich in einem bestimmten Bereich in einer konkreten Sache Außergewöhnliches leiste. Aber über alle Bereiche und zu jedem Zeitpunkt Besonderes zu leisten ist unmöglich. Perfektionisten sind vor allem perfekt darin, sich das Leben schwer zu machen.

Auch, weil sie sich selten wirklich aus ganzen Herzen über ihre Erfolge freuen können. Denn wenn schon kein anderer ein Haar in der Suppe findet, sie finden es schon. Und kritisch beäugen sie sich selbst, ob sie ihre Leistung vielleicht noch hätten steigern können, wenn sie sich noch mehr angestrengt hätten.

Alles in allem: Perfekt ist der Feind von gut – von guter Arbeit; von schöpferischer Kraft; von einem guten Leben.

Melanie Wolfers
©Marie Maerz/photocase.com

Wie sich vom Perfektionismus befreien?

Das gelingt wohl nicht ein für alle Mal. Aber immer wieder. Wenn mich mein Perfektionismus mal wieder vor sich hertreibt, dann versuche ich, ihn loszulassen mittels einer Sanduhr, die auf meinem Schreibtisch steht und die ich umdrehe.

Zum einen ist die Sanduhr für mich ein Symbol fürs Anhalten: Ich lasse meine Arbeit ruhen – halte inne – nehme den inneren Druck wahr – und dann: Tief durchatmen. Tief durchatmen. Tief durchatmen… – Ist die Sanduhr abgelaufen, arbeite ich weiter, bewusst etwas langsamer. Und vor allem auch meiner selbst etwas bewusster.

Zum anderen erinnert mich die Sanduhr daran: „Deine Lebenszeit ist einmalig und kostbar! Achte also darauf, dass das dir Wichtige nicht unter die Räder kommt.“ Für mich persönlich bedeutet das, Freiraum zu schaffen für Freunde und Familie, für Natur und Musik. Und für die Stille des Gebets, das meine Seele nährt. – Wofür möchte ich Freiraum schaffen? Eine Frage, die es immer wieder gilt zu stellen, wenn wir ein selbstbestimmtes, innengeleitetes Leben führen wollen.

Wer versucht, alles richtig zu machen, macht auf diese Weise alles falsch

Denn im Versuch, dass ich alles richtig mache, lasse ich mich von der Angst leiten, dass ich im Grunde nicht richtig bin; dass ich so, wie ich bin, nicht sein darf. Zu klein geraten. Zu fehlerhaft… Dass ich mich perfektionieren muss, um okay zu sein.

Ich persönlich bin in der spirituellen Tradition des Christentums beheimatet. Und kann hier immer wieder die Erfahrung machen, im Großen und Ganzen geborgen zu sein. Die Bibel bringt diese Erfahrung der Verbundenheit so auf den Punkt: „In ihr – der göttlichen Liebe – bewegen wir uns, leben wir und sind wir.“ (vgl. Apostelgeschichte 17,28)

Wer ahnt, im Großen und Ganzen geborgen zu sein, entdeckt, dass er mehr ist als all sein Können und Leisten. Und dass Schrammen und Fehler Türöffner sein können für eine Erfahrung, die Leonhard Cohen in seinem Song „Anthem“ so genial ausdrückt: Dass nämlich nichts perfekt ist, aber dass durch die Risse und Brüche unseres Lebens ein Licht einfallen kann.

„forget the perfect offering
There is a crack in everything
That’s how the light gets in“

Wer mag, kann hier ein Video mit Leonard Cohen und dem Lied sehen:


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